Ein Pietist im Zeitalter des Rationalismus
Zum 210. Geburtstag von Friedrich August Tholuck
Es war die Blütezeit der Bibelkritik. An den theologischen Fakultäten in Preußen bemühten sich hochgelehrte Sprachwissenschaftler, die Bibel als Märchenbuch zu entlarven und erhielten dafür reichlich Beifall von den Naturwissenschaftlern. Rationalismus nennt man diese geistesgeschichtliche Epoche, in der Religion „nützlich“ zu sein hatte – mehr nicht. Und einige Freigeister behaupteten seit den späten 1820er Jahren gar, sie sei „Opium für das Volk“. Das protestantische Staatskirchentum zementiere die Herrschaft der Herrscher und lehre die einfachen Menschen, gehorsame, gottesfürchtige, fleißige Untertanen zu sein.
In dieses Klima hinein wird ein 25-jähriger promovierter Theologe zum Professor an die Universität Halle berufen. Die Vokation durch das Berliner Kultusministerium erfolgt übrigens gegen das einstimmige Votum der Hallenser Professoren. Der neue Kollege, Friedrich August Tholuck, verfügt zwar über ein untadeliges Renommee als Experte für das Alte Testament. Außerdem hat er – erstaunlich genug – über den Sufismus promoviert – eine Bewegung der Mystik im persischen Islam. Aber Tholuck ist den Kollegen einfach zu fromm. Ein Erweckungserlebnis hat den gebürtigen Schlesier mit der Herrnhuter Brüdergemeine in Berührung gebracht. Bis dahin war der hochbegabte junge Mann, der mit 17 Jahren 19 Sprachen beherrschte, ein Suchender gewesen, oft der Verzweiflung nahe und von Selbstmordgedanken gepeinigt.
Mit seiner persönlichen Bekehrung wird er zum Missionar. Argwöhnisch beäugt von den Professorenkollegen, behindert und schikaniert, entfaltet er neben seinem Lehramt vielfältige missionarische und seelsorgerliche Aktivitäten. Er stellt sich als Wissenschaftler gegen die Rationalisten, die den Inhalt der Bibel relativieren wollen. Für die Unterweisung der Gemeinden gründet er 1827 die „Evangelische Kirchenzeitung für das protestantische Deutschland“, und als wissenschaftliche Plattform gibt er ab 1830 den „Literarischen Anzeiger für Christliche Theologie und Wissenschaft“ heraus.
Während die Kollegen ihn meiden, halten ihm die Studenten die Treue. Er gilt als faszinierender Prediger und rhetorisch glänzender akademischer Lehrer. Außerdem steht er seinen Studenten in jeder freien Minute für seelsorgerliche Gespräche zu Verfügung. In seinem Arbeitszimmer steht dazu ein Möbel, das als das „Tholucksche Sofa“ zur Legende wird.
Im latenten und unterschwelligen Streit zwischen Reformierten und Lutheranern tritt Tholuck für Dialog und Versöhnung zwischen den Denominationen ein. Als 1846 in London die Evangelische Allianz gegründet wird, nimmt er an der Gründungsversammlung teil und knüpft weitreichende Kontakte. Viele Methodistenkirchen in den USA schicken ihre zukünftigen theologischen Lehrer daraufhin zum Studium nach Halle, um bei Professor Tholuck eine vom Zeitgeist unangefochtene, biblisch fundierte evangelische Theologie zu hören. Bei Tholuck in Deutschland studiert zu haben, gilt im amerikanischen Methodismus jener Jahre als Eintrittskarte in höhere Kirchenämter. Bis ins 76. Lebensjahr versieht Toluck, inzwischen international hoch angesehen und selbst von einstigen Kritikern geschätzt, seinen Dienst als akademischer Lehrer. Zwei Jahre später stirbt er. Er hinterlässt nicht nur ein fruchtbares Schaffen. Aus seinem Privatvermögen und Stiftungen hat er ein Konvikt für mittellose Studenten gegründet, das knapp 70 Jahre bestehen wird, bis es die Nationalsozialisten schließen und enteignen. Autor: Michael Klein, Evangeliumsrundfunk (Gedenktag)
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